Wozu Gestalttherapie?

Ein paar Gedanken zur Methode

Im Kontakt zum Selbst geschieht Heilung

Die Gestalttherapie integriert Elemente der Psychoanalyse, Gestaltpsychologie, Phänomenologie, Existentialismus, Theaterwissenschaften, Taoismus und Zen, sowie verschiedene Formen  therapeutischer Körperarbeit. Entwickelt wurde sie von dem Berliner Psychoanalytikerpaar Fritz S. Perls und Laura Perls, und dem Psychologen, Alternativpädagogen und Sozialphilosophen Paul Goodman.

Die Stärke der Gestalttherapie liegt in ihrer „Konzentration“ auf den individuellen Wachstumsprozess bzw. ‚Lebens-Lernprozess’. Ihre Praxis und Theorie ist erfahrungs- und erlebnisorientiert. Die Gestalttherapie ist somit nicht vorrangig eine Psychotherapie zur Behebung von Störungen und Krankheiten, sondern vielmehr Lebensphilosophie und Lebenshaltung, ein Weg der Persönlichkeitsentwicklung im umfassenden Sinne bis hin zu den spirituellen Dimensionen unserer Existenz.

Im Zentrum steht dabei die Auffassung, dass der Mensch einen Wachstumsprozess über die gesamte Spanne des Lebens vollzieht. Seine Entwicklung wird in der Gestalttherapie verstanden als eine Abfolge von zyklischen Kontaktprozessen, deren Gelingen entscheidend für Gesundheit und Krankheit ist. „Im Prozess des Wachstums und der Reife erfährt und entwickelt der Mensch sein Selbst“  (F.S. PERLS u.a. 1951).

Die Gestalttherapie sieht den Menschen als „Teil der Natur, der als ganzheitlicher Organismus in unlösbarem Verbund mit seinem Feld existiert“ (F.S. PERLS 1980).

Der Aspekt der Ganzheitlichkeit ist grundlegend für die Gestalttherapie. Die allem zugrundeliegende Awareness, dt. „Bewusstheit“, ist stets eine Aktivität des ganzen Menschen, sie umfasst die Wahrnehmung aller Organe und aller Aktivitäten des Feldes. Alles gründet in der Awareness (Bewusstheit), sie ist die einzige Grundlage für Wissen und Kommunikation, und sie ist immer subjektiv wahrgenommene Wirklichkeit (F.S.PERLS 1969).Kontakt als „Berührung“ und „Abgrenzung“ zugleich ist entscheidend für das Gelingen der Entwicklung des Menschen, für Wachstum und damit für Gesundheit oder Krankheit. In der Beziehung zwischen Organismus und Umfeld vollzieht sich Wachstum (F.S.PERLS u.a. 1951). Ziel der Gestalt-Therapie ist die Fähigkeit zur Selbstregulation, Selbstaktualisierung und Selbstverwirklichung. Diese Fähigkeit ist stets gebunden an Welt und Umwelt, sie ist zugleich die Fähigkeit, Verantwortung – nach PERLS (1969) die respons – ability als ‚die Fähigkeit zu antworten‘ – für sein Leben zu übernehmen.

Gestalttherapie verbindet Einfachheit und Tiefe mit Komplexität und kreativer Offenheit. Ihre Ziele und Inhalte sind zugleich ihre Methode:  Bewusstheit im Kontakt mit Welt. Gestalt-Therapie ermöglicht so eine ganzheitliche Lebenshaltung. Als eine Schule der ‚Achtsamkeit‘ bietet sie nicht nur grundlegendes Handwerkszeug für persönliches Wachstum sondern ist auch spiritueller Weg oder Tor zum Transpersonalen.

… um ein sinnerfülltes Leben leben zu können

Sinn und Wirklichkeit

Die Wirklichkeit ( das was wirkt ) ist nur wahrnehmbar über die Sinne. Dort, wo die Wahrnehmung gestört oder blockiert ist, kommt es zu falscher Wahrnehmung bzw. Pseudo-Erkennen, d.h. es entsteht Sinnlosigkeit  und Un-Sinn.

Die weltweit zu beobachtende und zunehmende Zerstörung bei gleichzeitiger Sinn-Suche sind Ausdruck dieser gravierenden Wahrnehmungs- und Bewusstseinsveränderungen. Der Verlust bzw. die Einschränkung der sinnlichen Wahrnehmung führt zu Isolation, Leere, Einsamkeit, Angst, Depression und Süchten. Die Überflutung z.B. der visuellen  Wahrnehmung durch gigantische Medienproduktionen und der Computertechnik führt zur Verwechslung von sinnlicher und virtueller Wirklichkeit. „Sinnhafte“ Erfahrung droht zu „scheinbarem“ Erleben zu verkommen.

Angesichts dieser Herausforderung sehe ich im Gestalt-Ansatz (als Psychotherapie und Lebensphilosophie) einen „sinnvollen“ Weg des Lernens und Heilwerdens.

….um Heilung zu erfahren

Gestalttherapie und Spiritualität

Gestalt verweist immer auch auf die spirituellen Dimensionen unserer Existenz. Während Psychotherapie sich gewöhnlich mit Blockaden und Störungen innerhalb des ICH  (EGO) befasst, weist Spiritualität auf Entwicklung und Wachstum des SELBST – also die ICH-Grenzen überschreitend – hin. Grundlegende spirituelle Fragen sind: Wer bin ich? Was ist der Sinn meines (des) Lebens? Spirituelle Themen sind z.B. Individualität, Vergänglichkeit, Tod u.ä. Der Gestaltansatz begreift Wachstum und Entwicklung im Sinne der Entwicklung des SELBST und überschreitet die ICH-Grenzen. 

Prinzipien der Gestalttherapie, wie z.B. Achtsamkeit (awareness), Hier und Jetzt – Prinzip, in Kontakt sein, sinnliche Erfahrung vor intellektueller Analyse, Selbstbewusstheit, Selbstregulation des Organismus ( nichts tun, nicht eingreifen; chin.: wu wei ), Wachstum als Prozess, Figur-Grund-Prinzip sind wesentliche Aspekte dessen, was unter Spiritualität verstanden wird.

Beiden – Gestalt und Spiritualität –  gemeinsam ist: geschehen lassen, wachsen lassen, annehmen dessen, was ist, als Voraussetzung zu Veränderung, Wachstum und Heilung. Heilung ist nicht machbar oder herstellbar, sondern geschieht, wenn Störendes und Lebenshemmendes wahrgenommen und bewusst wird (Selbstregulation). Gestalttherapie und spirituelle Wege sind weder ziel-, noch lösungs- oder symptomorientiert: Veränderung, Wachstum und Heilung geschieht durch den bewussten Kontakt. Sowohl für die Gestalttherapie als auch für den spirituellen Weg gilt: Im Kontakt zum Selbst geschieht Heilung. So ist Spiritualität als Entwicklung und Wachstum dessen, was in jeder Bewusstseins- und Lebensform als Potential angelegt ist: die Sehnsucht nach der Überschreitung des Begrenzenden hin zum Kontakt, der Vereinigung mit einem Übergeordneten, einer höheren Ordnung, nach Einklang mit der Natur, der Erde und einer kosmischen Ordnung.

….um erfüllte Beziehung zu leben

Gestalttherapie und Identität

Die Gestalttherapie hat in Theorie und Praxis immer auch gesellschaftliche Wirklichkeit im Blick. Das gestalttherapeutische „Neurose“- Verständnis ist unter anderem auch immer eine kritische Anfrage an die Normen und Werte, die in die Identitätsbildung des Einzelnen als Teil der Gesellschaft einwirken.

Identität entsteht durch Identifikation. Die Gestalttherapie zielt in ihrer Methode darauf ab, lebenshemmende Identifikationen von wachstumsfördernden Identifikationen zu unterscheiden. Sie dient somit immer auch dem Prozess der Selbstwerdung des Menschen – der Entwicklung seiner Identität.

Die Gestalttherapie bietet Zugänge zu einem differenzierten Identitätsverständnis. Sie eröffnet Menschen Wege, um zu entdecken, wer sie jenseits der von außen kommenden Rollenerwartungen wirklich sind, und  was sie im Leben wollen. Sie unterstützt Menschen darin, ihrer Wahrnehmung zu trauen, den eigenen Gefühlen und Gedanken Ausdruck zu verleihen und sie zu würdigen. Sie gewinnen so die Fähigkeit, ihrem Denken, Fühlen und Handeln selbst eine neue Bewertung und einen „Wert“ zu geben.

Der Weg dahin ist ein Erfahrungsprozess, in dem es darum geht, die gelernten Rollen und Funktionen, die unsere Identität prägen, daraufhin zu überprüfen, ob sie Wachstum und Selbstwert  behindern oder fördern. Diese Überprüfung erfolgt in Form von Unterscheidungen. Ich erlebe und erkenne mich im Unterschied und ich bewerte mein Erleben im Unterschied zu den Bewertungen, die andere mir geben.  Die bewusste Unterscheidung von Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung im Kontakt ist eine der Basis-Methoden in der Gestalttherapie.

Kontakt ist Wahrnehmung und Verarbeitung des Fremden und des Neuen – und ist zugleich auch immer Abgrenzung. Kontakt ist, wie Laura Perls es formuliert, „ der Ort der Berührung und der Trennung“.

In der Würdigung des Erlebten und Erkannten liegt zugleich das ethische Moment der Gestalttherapie. Die Awareness, die Bewusstheit, als die im Erleben gründende und gewürdigte Erfahrung, gewährt die Freiheit zur Eigen-Bewertung und erlaubt Eigen-Verantwortung.

Die Gestalttherapie zielt ab auf die Befreiung und Entfaltung des authentischen Selbst, – und damit auf die Überschreitung gesellschaftlich vorgegebene Normen und Werte. Sie ist daher auch dazu geeignet, Menschen darin zu unterstützen, sich die Freiheit zu nehmen, sich selbst unabhängig von Rollen und Klischees zu definieren.

Ein so gewonnenes Selbstverständnis befähigt dazu, andere in ihrem Verschieden-Sein respektieren und achten zu können. Dies bedeutet für alle gleichermaßen, herauszutreten aus einem Denken, das die Definition der eigenen Identität aus der Be- und Abwertung des jeweils anderen ableitet.

Spirituelle Reife besteht im Annehmen eines Lebens in Beziehung.“

Jack Kornfield

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